PerSpektiven: Sie sind Spezialist in Haftpflicht- und Sozialversicherungsrecht – warum diese Spezialisierung – oder – was ist das Spannende an diesem Gebiet?

Viktor Györffy: Zum einen weil es um Probleme von Menschen geht, die aufgrund gesundheitlichen Einschränkungen oder Unfällen, die sie erlitten haben, ihre materielle Existenz nicht mehr sichern können und oft auch nicht in der Lage sind, ihre Rechte durchzusetzen. Zum anderen, weil es ein vielfältiges und dynamisches Rechtsgebiet ist, wo es in den Gesetzen und der Rechtssprechung immer wieder Anpassungen gibt. Dazu kommen rechtspolitische und gesellschaftliche Komponenten: Wie geht man in unserem Land mit Menschen um, die aufgrund gesundheitlicher Probleme ihre Existenz nicht mehr ohne weiteres sichern können? Wie gut funktioniert das soziale Auffangnetz, das wir eigentlich haben sollten? Wie können die Ansprüche von Menschen, welche auf dieses Auffangnetz angewiesen sind, auf rechtlichem Weg durchgesetzt werden?

P: Das UNO-Uebereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wurde 2014 von der Schweiz ratifiziert. Ist jetzt für Menschen mit Behinderungen in der Schweiz das Schlaraffenland ausgebrochen – oder anders gefragt, was hat sich getan und was nicht?

VG: In der UNO-Behindertenrechtskonvention und im daran anknüpfenden  Behindertengleichstellungsgesetz geht es primär darum, dass Menschen mit Behinderungen besonderen gesetzlichen Schutz erhalten und nicht diskriminiert werden. Menschen mit Behinderungen beim Wohnen, Leben und Arbeiten und bei der Beanspruchung von Infrastruktur und Dienstleistungen sollen Menschen ohne Behinderung möglichst gleich gestellt und nicht aufgrund ihrer Behinderung mit Barrieren konfrontiert sein. Das heisst zum Beispiel, dass man im Rollstuhl auch möglichst guten Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln oder Zutritt zu Gebäuden hat.

In diesem Bereich hat sich, seit die Schweiz diesem Uebereinkommen beigetreten ist, sicher einiges getan. Gleichzeitig muss man aber feststellen, dass die Behindertengleichstellung in der Praxis oft schwierig durchzusetzen ist. Gesetzlich und in Gerichtsentscheiden erreicht man oft  bestenfalls ein Minimum.

In weiteren Bereichen, wenn es zum Beispiel um die materielle Sicherheit und andere staatliche Leistungen geht, hilft das UNO-Uebereinkommen wenig bis nichts.

P: Also zum Beispiel behindertengerechte SBB-Züge?

VG: Bei der Entwicklung der neuen Fernverkehrszüge hat man das sehr schön gesehen. Es gab einen jahrelangen Rechtsstreit. Es hat zwar verschiedene Anpassungen gegeben, aber nicht in einem Umfang, welcher eine befriedigende Benützung dieser Züge für Menschen mit Behinderung ermöglichen würde. Insbesondere sind die Einstiegsrampen zu steil und zu kurz. Das ist ein typisches Beispiel dafür, wie zäh es ist, bei der Behindertengleichstellung Fortschritte zu erzielen.

P: Sucht wird nach und nach als Krankheit anerkannt. Ist es jetzt für Suchtkranke einfacher geworden, eine IV-Rente zu erhalten? 

VG: Es ist tendenziell sicher einfacher geworden, seit das Bundesgericht die alte Praxis, wo Suchterkrankungen bei der Invalidenversicherung für sich alleine nicht zählten, beseitigt wurde und man jetzt viel näher bei der Praxis ist, welche allgemein für psychisch kranke Menschen gilt. Allerdings ist die Praxis der IV bei psychisch kranken Menschen nach wie vor sehr rigid.

Es zeigt sich hier ein Phänomen, welches wir auch bei anderen Krankheitsbildern sehen: Es gibt für die IV eine ganze Reihe von Krankheiten, die sie nur in Ausnahmefällen anerkennt. Die IV und die Gerichtspraxis schaffen so fiktiv «gesunde Menschen». Es wird unterstellt, gewisse Erkrankungen, beispielsweise auch Schmerzerkrankungen, liessen sich im Normalfall überwinden. Dabei ist den Juristen, welche diese Praxis massgeblich mitentwickelt haben, eigentlich klar, dass dies pure Fiktion ist und nicht Realität. Letztlich werden hier gravierende gesundheitliche Probleme ignoriert, nicht zuletzt aus Angst, jemand könne seinen Gesundheitszustand gegenüber den Versicherungen schlimmer darstellen, als er effektiv ist.

Mit diesem Phänomen werden auch Suchtkranke weiterhin zu kämpfen haben. Bei der Invalidenversicherungen ist das Denken, für Suchterkrankungen und für weitere Beschwerdebilder müsse sie keine Leistungen erbringen, tief verankert. Es wird auch in den kommenden Jahren ein Kampf bleiben, die IV dazu zu bewegen, bei Suchterkrankungen wirklich hinzuschauen, das Problem zu anerkennen und dafür angemessene Leistungen auszurichten.

P: Man hört in diesem Zusammenhang immer wieder von willkürlichen IV-Gutachten…

VG: Die Durchführung der medizinischen Gutachten ist auch ein massives Problem. Die Gutachter übernehmen den juristisch gefärbten Ansatz der IV oft in vorauseilendem Gehorsam in ihrer medizinischen Beurteilung und negieren damit die bestehende gesundheitliche Problematik.

Dazu kommt, dass die Auswahl der Gutachter und deren Bezahlung – pro Fall oder pro Fachbereich – begünstigt, dass die Gutachter das Problem nicht sehen oder sehen wollen. Wenn ein Gutachter wenig Zeit investiert und dann einfach feststellt, die zu beurteilende Person habe keine Einschränkungen, so wird er an der ausgerichteten Pauschale mehr verdienen, weil er weniger Zeit investiert hat. Zudem kann er sich ausrechnen, eher wieder einen Auftrag von der IV zu erhalten, wenn er eine Beurteilung zu Gunsten der IV getroffen hat. Es gibt eine Reihe von Gutachtern, welche durchwegs lausige Gutachten produzieren, ohne dass dies dazu geführt hätte, dass die IV diesen Gutachtern keine Aufträge mehr erteilt – im Gegenteil, solche Gutachter werden oft verstärkt eingesetzt. Auf der anderen Seite hat es schon Gutachter gegeben, welche sich konsequent darum bemüht haben, die bestehende gesundheitliche Problematik sorgfältig herauszuarbeiten, und welche dann immer weniger Aufträge erhielten oder Rückfragen von der IV erhielten, welche darauf abzielten, dass die Gutachter ihre Beurteilung zu Gunsten der IV abänderten.

Dem entsprechend gibt es auch bei der Beurteilung von Suchtkranken Gutachter, welche es primär als ihre Aufgabe ansehen, das Problem kleinzuschreiben oder wegzuerklären. Es gibt auch viele Ärztinnen und Ärzte, welche viel Erfahrung mit Suchtkranken haben und in der Lage sind, die bestehende Problematik gut herauszuschälen. Aber man hat als Suchtkranker immer das Risiko, bei einem Gutachter zu landen, der einen dann gesundschreibt.

P: Wenn man einen derartigen Entscheid bekommt, welche Rechte hat man?

VG: Zuerst kann man versuchen, im Abklärungsverfahren Einfluss zu nehmen,

dass man von behandelnden Fachärzte bereits fachlich gute Berichte einreicht, dass man sich erkundigt, bei welchem Gutachter diese Abklärung stattfinden soll, und herauszufinden versucht, wie dieser Gutachter funktioniert. Wenn man dann feststellt, dass es ein Gutachter ist, der die Versicherten tendenziell gesundschreibt, kann man versuchen, zu einem anderen zu kommen. Es gibt Gutachter, bei denen das «Gesundschreiben» so sicher wie das Amen in der Kirche ist.

Aber die IV dazu zu bringen, einen anderen Gutachter zu beauftragen, ist schwierig. Manchmal gelingt es, manchmal nicht.

Wenn man den Entscheid vorliegen hat, kann man gegenüber der IV und allenfalls vor Gericht geltend machen, dass die medizinische Einschätzung und die juristische Begründung falsch sind. Hier ist es hilfreich, wenn von behandelnden Fachärzten Berichte eingereicht werden können, welche die Problematik detailliert und zutreffend darstellen. Manchmal klärt die IV von sich aus solche Fälle derart schlecht und rudimentär ab, dass sie vom Gericht gezwungen wird, weitere Abklärungen vorzunehmen, oder das Gericht holt selbst ein Gutachten ein.

P: Welche Rechte haben Suchtkranke?

VG: Wichtig ist, dass man Suchtkranke wie andere Menschen begreift. Suchtkranke haben spezifische Probleme wegen ihrer Sucht. Nebst der Abhängigkeit bestehen oft andere Probleme, die gesehen und anerkannt werden müssen. Die Ansprüche sollten bei Suchtkranken ebenso durchgesetzt werden können wie bei allen anderen auch. Stigmatisiert man Suchtkranke, so verstellt dies den Blick auf die effektive Problematik.

In der Schweiz hat sich über die Jahre ein einigermassen pragmatischer Umgang mit Suchtkranken etabliert. Das kann bei der Anerkennung versicherungsrechtlicher Ansprüche helfen. Aber Vorurteile sind immer noch da. Für Behörden, Versicherungen und Gerichte haben Suchterkrankungen oft etwas Suspektes, ebenso wie beispielsweise Schmerzerkrankungen, bei denen Sozialversicherungsleistungen oft verweigert werden, aus der Angst heraus, Leistungen auszurichten für Versicherte, welche meinen oder vorgeben, arbeitsunfähig zu sein, es aber gar nicht sind.

Es sollten jedoch nicht derartige Vorbehalte ausschlaggebend sein. Es muss darum gehen, den effektiven medizinischen Sachverhalt sorgfältig zu eruieren und jene Versicherungsleistungen auszurichten, die dem bestehenden Gesundheistzustand angemessen sind.

Es ist wichtig, dass man die bestehende Problematik gut herausarbeitet, um Behörden, Versicherungen und Gerichten klarzumachen, wie sich die Sachlage präsentiert. Je genauer man hinschaut und je sorgfältiger man abklärt, desto eher wird es gelingen, dass Suchterkrankungen gegenüber anderen Krankheiten gleichwertig behandelt werden und nicht einfach pauschal und undifferenziert als  «Sucht» abgetan werden mit der Folge, dass man sich medizinisch und rechtlich gar nicht weiter damit befasst.

P: Bei Suchterkrankungen ist oft auch eine andere Erkrankung mit im Spiel…

VG: Darum ist es besonders wichtig, dass die effektive Problematik genau herausgeschält und nicht auf die Abhängigkeit von Suchtmitteln reduziert wird. Wir haben es mit Menschen zu tun, deren gesundheitlichen Probleme ganzheitlich erfasst werden müssen, wobei die Suchterkrankung vielleicht nur eine von mehreren Komponenten ist. 

P: Angehörige von Suchtkranken sind in dieser Situation im Umgang oft überfordert. Was raten Sie im Umgang mit IV-Stellen, KESB und anderen Behörden und Amtsstellen?

VG: Wenn sich Angehörige engagieren und versuchen, ihre suchtkranken Angehörigen zu unterstützen, so sind sie oft im Sandwich zwischen dem Suchtkranken und den Behörden und müssen bei beiden Seiten versuchen, Probleme zu lösen.

Bei den Behörden müssen sie erreichen, dass die Probleme ernst genommen und die Ansprüche geltend gemacht und durchgesetzt werden können.

Der Umgang mit den kranken Angehörigen, welche oft kaum in der Lage sind, bürokratische Anforderungen selbständig zu erfüllen, kann schwierig sein. Bei Behörden besteht die Tendenz, an Menschen mit Sucht- und anderen Erkrankungen Anforderungen zu stellen, welche diese dann nicht erfüllen, und sie so ins Leere laufen zu lassen. Ein gutes Setting ist hier sehr wichtig, unter Einbezug von geeigneten Einrichtungen, Ärzten und Beratungsstellen wie ada-zh. Es kann auch um Unterstützung in Bereichen wie Beschäftigung und Wohnen gehen. Besteht ein funktionierendes Netzwerk, so vereinfacht dies auch die juristische Unterstützung und Vertretung.

P: Herr Györffy, herzlichen Dank für dieses Gespräch!

Zur Person

Viktor Györffy ist seit 1999 als Anwalt in Zürich tätig mit Schwerpunkten in den Bereichen Grundrechte, Haftpflicht- und Sozialversicherungsrecht sowie Strafrecht. Er ist zudem Präsident des Vereins grundrechte.ch und Vorstandsmitglied der Digitalen Gesellschaft.