Mit Stolz aus der Sucht
Martin Fleckenstein
Emanzipation in der Angehörigenrolle mit der leistungs­sensiblen Therapie. Wenn sich Menschen mit einer Abhängigkeits­erkrankung entscheiden, Angebote aus dem Suchthilfe­system in Anspruch zu nehmen, haben sie einen langen Weg hinter sich. Sich Hilfe zu holen, sei es nun beim Hausarzt, in Beratungs­stellen, in auf Abhängigkeits­erkrankungen spezialisierten Ambulatorien, Tageskliniken oder stationären Einrichtungen, bedeutet anzuerkennen, dass man bei dem Versuch gescheitert ist, selbst die Kontrolle über den Konsum zurückzugewinnen. Das ist für die Betroffenen zutiefst beschämend und wird in der Gesellschaft oftmals als Willens­schwäche verurteilt.

Sie sind auf wohlwollende Hilfe angewiesen und müssen erkennen, dass der süchtige Lebensstil am besten alleine funktioniert, der Suchtausstiegsprozess jedoch nur mit Unterstützung und tragfähigen Beziehungen. Hier kommt Angehörigen eine zentrale, aber auch sehr schwierige Rolle zu. Sie sind in Bezug auf die Suchterkrankung der nahestehenden Person genauso betroffen, wie die abhängige Person selbst. Es ist ihnen in der Regel ein grosses Anliegen zu helfen und beim Suchtausstieg zu unterstützen. Dafür benötigen sie unglaublich viel Kraft, Energie und Durchhaltevermögen.

Angehörigen ergeht es bezüglich der Beschämung nicht viel besser als den Betroffenen selbst. Oftmals schämen sich Angehörige von abhängigen Menschen für die Tatsache, dass in der eigenen Familie oder Partnerschaft eine Abhängigkeitserkrankung vorliegt. Diese Schamgefühle sind nicht selten zusätzlich verknüpft mit Schuldgefühlen. Angehörige müssen u.a. für sich Fragen klären wie: Erzähle ich meinem Nachbar von der Alkoholsucht meiner Frau? Wie würden wohl meine Arbeitskollegen reagieren, wenn sie wüssten, dass mein Sohn suchtkrank ist? Wissen im Turnverein vielleicht schon alle von der Erkrankung meines Mannes?

Sie befürchten also ebenso wie die Betroffenen selbst negative Reaktionen und Stigmatisierung durch ihr Umfeld, sollten Aussenstehende von der Suchterkrankung erfahren. Sowohl Betroffene als auch Angehörige werden auf diese Weise von der Suchterkrankung in emotionale Geiselhaft genommen. Es dominieren Scham- und Schuldgefühle, zusätzlich zu den häufig auftretenden negativen Gefühlen bei Rückschlägen wie Enttäuschung, Frustration, Angst und Wut. Diese belastenden Emotionen rauben Kraft und Energie, die Angehörige dringend für ihre Unterstützungsleistungen benötigen würden. Wie gross muss demzufolge das Bedürfnis von Betroffenen und ihren Angehörigen nach einem Zugang zu positiven Gefühlen im Umgang mit dieser schweren chronischen Erkrankung sein? Wie wichtig muss die Emanzipation, die Geiselhaft durch die Suchterkrankung im (Familien-) System wohl sein?

Diesen Bedürfnissen widmet sich die Leistungssensible Therapie – die LST. Sie besteht aus drei Gruppensitzungen und bezieht Angehörige bei der dritten Sitzung mit ein. Maladaptive Gleichheitserwartungen werden thematisiert und in ihrem Ursprung, dem unterschiedlichen Erleben von Abstinenz, therapeutisch bearbeitet: Wenn Gesunde und Betroffene von Abstinenz reden, gebrauchen sie zwar das gleiche Wort «Abstinenz», sprechen jedoch nicht vom gleichen Zustand.

Merke: Das Erleben von Abstinenz bei Betroffenen und Nicht-Betroffenen unterscheidet sich fundamental. Die unbewusste Annahme, dass Betroffenen die Konsumkontrolle ähnlich leicht fallen müsste wie gesunden Personen führt zu inadäquaten Erwartungen bei Betroffenen und Angehörigen und in der Folge zu Stigmatisierung und Selbststigmatisierung.

Daher ist die Gleichheitserwartung weder aus der Perspektive des Umfeldes noch aus der Sicht der Betroffenen inhaltlich richtig oder der Sache dienlich. Ziel ist es, allen Beteiligten zu vermitteln, dass der Zustand der Abstinenz für Betroffene eine Leistungserbringung darstellt und für nicht abhängige Menschen eben nicht.

Mit dieser Erkenntnis lassen sich die inadäquaten Gleichheitserwartungen mit den beschriebenen Folgen (Vorwurf, Beschämung, Stigmatisierung) wirkungsvoll bearbeiten. Die schaminduzierende, vorwurfsvolle Haltung bei Betroffenen und nahestehenden Personen kann durch eine «leistungssensible Haltung» ersetzt werden.

Ich bin stolz auf jeden Tag Abstinenz!

Diese lässt sich wie folgt umschreiben: Betroffene/r: «Ich verstehe, dass ich im Unterschied zu gesunden Personen dauerhaft Leistungen erbringen muss, um den Zustand der Abstinenz zu erreichen oder aufrechterhalten zu können. Für mich ist Abstinenz eben keine Selbstverständlichkeit mehr. Das erlebe ich manchmal als überfordernd. Aus diesem Grund bin ich stolz auf jede meiner Abstinenzleistungen!» Umfeld: «Ich weiss, dass der Zustand der Abstinenz für mich (als gesunde Person) sehr leicht herstellbar ist. Ich weiss aber auch, dass dieser Zustand für Betroffene viel schwerer erreichbar und aufrechtzuerhalten ist. Daher erwarte ich nicht von ihnen, dass sie das so leicht hinbekommen wie ich selbst. Ganz im Gegenteil – ich bin stolz auf jeden Tag Abstinenz.

Merke: Die Abhängigkeitserkrankung führt zu Scham und Beschämung bei Betroffenen und den ihnen nahestehenden Personen. Bei Betroffenen führen Schamgefühle zu Selbstverleugnung und Intransparenz, bei Angehörigen erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit, dass diese selbst psychische Probleme entwickeln. Beides ist für einen erfolgreichen Suchtausstiegsprozess ungünstig.

Leistungssensibilität und Stolz versus Stigmatisierung und Scham

Die Leistungssensible Therapie durchbricht die gerade beschriebene maladaptive Dynamik und bietet Betroffenen und ihren
Angehörige werden in emotionale Geiselhaft genommen. Ich bin mir bewusst, dass ich als Angehöriger einer abhängigen Person ebenfalls erstaunliche Leistungen erbringe. Diese Leistungen sind keine Selbstverständlichkeit. Ich bin stolz darauf, wie wir gemeinsam mit den Herausforderungen dieser Erkrankung umgehen».

Die Tatsache, dass Personen mit einer Abhängigkeitserkrankung und ihre Angehörigen im Suchtausstiegsprozess Unglaubliches leisten und immer wieder leisten müssen, geht bei häufigem Erleben von Rückschritten und damit einhergehenden Schamgefühlen oder bei Beschämung von aussen meist unter – mit katastrophalen Folgen für die Veränderungsmotivation!

Versagensgefühle dominieren Gefühle der Zuversicht, Scham- und Schuldgefühle aufgrund von Misserfolgen verhindern Gefühle von Freude und Stolz.

Angehörige erbringen grosse Leistungen

Betroffene und Angehörige vollbringen im Suchtausstiegsprozess viele kleine und grosse Leistungen im Dienste der Konsummengenreduktion oder der Abstinenz, die sehr wohl Anlass zur Freude geben sollen und zu Recht das Gefühl von Stolz hervorrufen dürfen. Die Freude über oder die Anerkennung für Gelungenes oder auch schon für das ehrliche Bemühen um Verbesserung sind motivierende und stabilisierende Reaktionen, die leider viel zu selten erfolgen. Sei es durch uns als Fachpersonen, durch das direkte Umfeld oder schon gar nicht durch die Betroffenen selbst. Laut Studien zur Kindererziehung wagten sich Kinder, die für ihr Bemühen bei der Lösung schwerer Aufgaben statt für ihre dabei gezeigte Intelligenz gelobt wurden, auch später an herausfordernde Aufgabenstellungen. Folgt man diesem Prinzip, lässt sich daraus ableiten: Es ist wichtig, die Bemühungen von Menschen im Suchtausstiegsprozess immer wieder anzuerkennen und zu würdigen. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich auch weiterhin den schwierigen Herausforderungen auf ihrem Weg stellen. Dies gilt in gleicher Weise für Betroffene und Angehörige!

Die leistungssensible Therapie fokussiert deshalb auf diese Leistungen und Bemühungen. Sie setzt mit ihrem Fokus auf die Sensibilität für die Leistungen von Personen mit einer Abhängigkeitserkrankung und ihrer Angehörigen einen Kontrapunkt zu der oft jahrelangen Einengung auf Misserfolge, Rückschläge sowie Schuld- und Schamgefühle.

In diesem Artikel sollen die Leistungen von Angehörigen genauer herausgestellt werden. Daher wird an dieser Stelle auf eine Auflistung häufiger Leistungen von Betroffenen im Suchtausstiegsprozess verzichtet werden.

Leistungen Angehöriger in der Begleitung von Personen mit einer Abhängigkeitserkrankung:

  • Erdulden oft jahrelanger Zustände der Ungewissheit
  • Umgang mit Schuldzuweisungen
  • Aushalten von Todesangst
  • Umgang mit grosser Wut
  • Aushalten von Ohnmacht und Hilflosigkeit
  • Umgang mit Unehrlichkeit und dem Gefühl, betrogen zu werden
  • Trotz allem immer wieder Bereitschaft, zu unterstützen und zu helfen
  • Erscheinen bei einem Angehörigenanlass oder Familiengespräch
  • Anschluss an eine Angehörigenselbsthilfegruppe
  • Uvm.

Diese erstaunlichen Leistungen der Angehörigen sind zu Recht ein Grund, stolz zu sein! Gerade wenn es gelingt, damit über Jahre hinweg einen konstruktiven Weg zu finden. Sie werden aber selten adäquat gewürdigt, sei es durch die Angehörigen selbst oder auch durch die direkt Betroffenen.

Spezifische Ziele der LST in Bezug auf Angehörige

Betroffene verstehen und würdigen die Leistungen der nahestehenden Personen, Sensibilisierung der Angehörigen für die selbst zu erbringenden Leistungen und die Leistungen der Betroffenen, damit Würdigung und Anerkennung möglich wird. Verbesserung des Verständnisses und der Verständigung zwischen Angehörigen und Betroffenen, in dem alle Beteiligten eine «gemeinsame/leistungssensible» Sprache sprechen lernen.

Signifikante Verbesserungen

Abschliessend kann gesagt werden: Die Leistungssensible Therapie setzt bewusst einen Kontrapunkt zu Beschämung und Selbstbeschämung. Sie fokussiert auf die erbrachten Bemühungen und Leistungen der Betroffenen und ihrer Angehörigen mit dem Ziel, dass diese Stolz und Freude empfinden und sich gegenseitig würdigen. Im besten Fall wirkt sich das positiv auf die Bereitschaft aus, die jeweiligen Leistungen zu wiederholen. Wie zwei Studien belegen, reduziert die Leistungssensible Therapie die Rückfallhäufigkeit während der Behandlung signifikant. In den drei Monaten nach der Behandlung führt sie zu signifikant weniger Konsumtagen und zu einer signifikanten Verbesserung in der Kommunikation zwischen Angehörigen und Betroffenen. Angehörige leisten Unglaubliches.

Ja, ich möchte mehr über das Angebot von ada-zh erfahren.

Kontakt­aufnahme

Sie erreichen uns per Formular oder unter der Telefonnummer 044 384 80 10.

15 + 14 =